Streifzüge in die Geschichte des unteren Odertal
Vor etwa 12.000 Jahren: Die Eiszeit geht zu Ende
Während der letzten Eiszeit drangen Gletscher von Norden bis in den Süden Brandenburgs vor. Schmelzwasser, Toteis und Wind formten die Landschaft der Uckermark. Die pommersche Eisrandlage (vor ca. 12.000 Jahren) hinterließ Hügel, Seen, Rinnen und die Oderniederung. Diese wurde mit Schmelz- und Flusswassersedimenten um etwa 50 Meter auf das heutige Niveau aufgeschüttet. Die Höhenzüge auf beiden Seiten des unteren Odertals sind Grundmoränen. Ihr Geschiebematerial wurde während der Stillstandphasen des Gletscherrückzugs abgelagert. Typische Tiere der Eiszeit wie Mammut, Wollnashorn und Riesenhirsch starben gegen Ende der Eiszeit aus.
Vor 8.000 Jahren: Mittelsteinzeit
Die Oder durchströmte das Tal, wechselte immer wieder ihren Lauf und übertrat während der Hochwasser ihre Ufer. Jäger und Sammler ließen sich nieder. Sie erlebten das Tal als wilde Moorlandschaft mit Auwäldern und zahlreichen Gewässern. Fischfang in der Aue und die Jagd in den umliegenden Wäldern bestimmten das Leben. Zu den Beutetieren gehörten z. B. Elch, Rothirsch, Wildschwein und Reh. Die frühen Bewohner der Flusslandschaft teilten ihren Lebensraum mit Bären, Wölfen, Wisenten und Auerochsen. Feste Siedlungen gab es noch nicht. Die Menschen legten Lagerplätze an, die sie immer wieder aufsuchten. Feuersteingeräte, Walzenbeile und eine aus Hirschgeweih geschnitzte Axt, die im Polder bei Schwedt/Oder gefunden wurde, sind dafür Beleg.
Vor 7.000 – 3.700 Jahren: Jungsteinzeit
Ackerbauern und Viehzüchter wanderten entlang der Oder in das Gebiet ein. Sie rodeten den Wald, um Platz für ihre Siedlungen und Ackerflächen zu schaffen. Neben dem Anbau von Feldfrüchten betrieben sie Jagd, Fischerei und Viehzucht. Zu ihren Haustieren gehörten Schafe, Ziegen, Schweine und Rinder. Pflug und Beil waren die wich¬tigsten Werkzeuge. Die Menschen benötigten sehr viel Holz als Bau- und Werkstoff für die Errichtung von Siedlungen. Auch als Brennstoff zum Heizen, für die Zubereitung von Speisen und die Keramikproduktion war Holz in dieser Zeit besonders wichtig.
7. – 12. Jahrhundert: Mittelalter, Slawenzeit
Im 7. Jahrhundert zogen westslawische Stämme von Osten in das Gebiet. Die Slawen lebten vom Getreideanbau und der Viehzucht. Auch die Jagd, der Fischfang und die Bienenzucht spielten eine wichtige Rolle. Der Holzbedarf der Slawen war enorm. Sie benötigten es für den Bau von Häusern, Schutzwällen, Brücken und Bohlenwegen. An strategisch günstigen Plätzen legten sie Burgwälle an, so z. B. den Burgwall Schwedt an einem Oderübergang. Er war das Kultur- und Handelszentrum der Region. Auch die zweigliedrige Burgwallanlage in Stolpe stammt aus dieser Zeit.
Das untere Odertal im Mittelalter
Im 12. und 13. Jahrhundert zogen auf Betreiben slawischer Fürsten, der Herzöge von Pommern, deutsche Bauern, Bürger und Adlige ins Land. An die Siedlungswilligen wurde unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit das „Deutsche Recht“ verliehen. Sie waren damit persönlich frei und hatten das Erbrecht an Grund und Boden. Die Landwirtschaft und die Besiedlung wurden nun straff organisiert. Die Bevölkerung nahm stark zu. Der Einsatz des Bodenwendepfluges und die Dreifelderwirtschaft steigerten die Erträge der Landwirtschaft. Gleichzeitig entwickelte sich im Odertal die Fischerei zu einem wichtigen Wirtschaftszweig. Zur Verteidigung wurden Burgen errichtet. Die Turmburg von Stolpe, die in dieser Zeit gebaut wurde, ist der älteste Ziegelsteinbau der Region. Neben den Ziegeln aus heimischem Ton wurden auch Feldsteine, die die Eiszeit hinterlassen hatte, verarbeitet.
18. Jahrhundert: Zeit des Tabaks
Im 18. Jahrhundert brachten Hugenotten die Tabakpflanze ins Land und sorgten damit für die Entstehung eines neuen wichtigen Wirtschaftszweiges. Die Pflanzen gediehen hier gut, und die Region entwickelte sich rasch zu einem Zentrum des Tabakanbaus, der Tabakverarbeitung und des Tabakhandels. Die Scheunen, in denen die Tabakblätter getrocknet wurden, sind in unterschiedlichen Ausführungen bis in die heutige Zeit erhalten. Sie wurden aus Holz, Feld- und Ziegelsteinen erbaut. Je nach Material, Ausführung und Größe werden einfache Feldschuppen, massive Scheunen und mehrgeschossige Speicher unterschieden. Allen gemeinsam sind zahlreiche Luken und Öffnungen, die ein gutes Trocknen des Tabaks ermöglichen.
19. Jahrhundert, Anfang 20. Jahrhundert: Die Oder im Zeitalter der Industrialisierung
Der Handel blühte und erforderte ein umfangreiches Verkehrsnetz. Die neuen Kopfsteinpflasterstraßen wurden mit Kastanien und Linden bepflanzt. Diese Alleen bereichern auch heute noch das Landschaftsbild. Mit der wachsenden Bevölkerung stieg der Bedarf an Nahrungsmitteln. Gutswirtschaften erlebten einen Aufschwung. Die landwirtschaftliche Produktion fand nun auf großen Flächen statt. Talniederungen, bisher kaum genutzt, wurden entwässert, Bruch- und Auwälder gerodet. Deiche und Stromverlegungen veränderten den Verlauf der Oder.Das 1904 im preußischen Landtag gebilligte Gesetz zur „Verbesserung der Vorflut in der unteren Oder“ schuf die Grundlage für den Bau des Poldersystems. Nach holländischem Vorbild wurden allein von 1906 bis 1928 129 wassertechnische Bauwerke, 4 Schiffsschleusen, 21 Kahnschleusen, 30 Deichlücken sowie 28 Brückenbauten und 177 km Deich errichtet. Schiffe bis 600 Tonnen konnten nun die Oder und die parallel, unter Einbeziehung von Oderaltarmen gebaute, hochwasserfreie „Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße“ befahren.Ein Großteil der wassertechnischen Bauwerke wurde während des zweiten Weltkrieges zerstört. Während diese auf deutscher Seite wieder instandgesetzt wurden, konnte sich im polnischen Teil des unteren Odertals die Natur den Landschaftsbereich zurück erobern.
1960: Intensivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft
Auch im 20. Jahrhundert blieb die Landwirtschaft wichtigster Wirtschaftszweig der Region. Der Bodenreform nach dem Zweiten Weltkrieg folgte die sozialistische Kollektivierung. In den 1970er Jahren begannen Industrialisierung und Intensivierung der Landnutzung. Mit Hilfe großflächiger Monokulturen, komplexem Maschineneinsatz, chemischer Düngung und der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln wurden enorme Ertragssteigerungen erzielt. Verbliebene großflächige Moore wie das Randow-Welse und das Gartzer Bruch wurden entwässert, um sie als Grünlandflächen intensiv zu nutzen. Schwedt/Oder, im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört, wurde ein bedeutendes Zentrum der petrolchemischen Industrie und der Papierherstellung. Die Einwohnerzahl stieg innerhalb von 20 Jahren von 9.000 (1960) auf 54.000 (1980). In Gryfino am Ostufer der Oder bauten die polnischen Nachbarn ein neues großes Kohlekraftwerk.
Der Nationalpark Unteres Odertal entsteht
Mit den politischen Veränderungen des Jahres 1990 begann auch für das untere Odertal eine neue Zeit. Trotz Oderregulierungen, intensiver Landwirtschaft und Einflüssen der Industrie konnte sich in der weiträumigen, regelmäßig überfluteten Oderniederung eine in Mitteleuropa selten gewordene Auenlandschaft erhalten. Diese wird seit 1995 als Nationalpark geschützt, erhalten, gepflegt und entwickelt. Der ungestörte Ablauf von Naturprozessen steht dabei im Mittelpunkt. Im Nationalpark können sich die Besucher in einer einzigartigen Landschaft erholen und viele neue Eindrücke mitnehmen. Neue Wanderpfade, viele Kilometer Radwege auf den Deichen und in der Aue bieten den Touristen ein besonderes Naturerlebnis. Ein neuer Wirtschaftszweig, der Naturtourismus, entwickelt sich seit mehr als 20 Jahren.